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Vom Stiefkind der Medizin zum Hollywood-Hype: Lymphdrainage

Lymphdrainage

„Hat die Lymphe ungeahnte Heilkräfte? – ohne Zweifel!“ so Dr. Emil Vodder vor fast 100 Jahren. Jetzt reimportieren wir sein Wissen aus Amerika

Ob in der Vogue, Brigitte, Elle, ARD oder den Social Media: Die „Brasilianische Lymphdrainage“ hat Hochkonjunktur. Vielleicht haben auch Sie sich schon gefragt: Wie kann es sein, dass die Lymphdrainage, die doch in Europa ihre Ursprünge hat, plötzlich aus Amerika kommend, viele Menschen in ihren Bann zieht? Brauchen wir Hollywood, damit unsere ureigensten Therapiemethoden das Ansehen bekommen, das sie verdienen? Aber der Reihe nach:

Die Anfänge der Manuellen Lymphdrainage

Der Däne Dr. Emil Vodder gilt als einer der Väter der Manuellen Lymphdrainage, einer manuellen Therapieform, die die Aufnahme der Gewebsflüssigkeit in die Lymphgefäße fördert und den Transport der Lymphe durch den Körper anregt, bis diese herznah ins venöse System mündet. Er beschreibt seine Erfahrungen in den dreißiger Jahren in Frankreich am Beispiel eines Lymphatikers mit Sinusitis, Kopfschmerzen und unreiner Haut. Er vermutete, dass die geschwollenen Lymphknoten im Hals ein Zeichen für den Stau des Lymphabflusses aus dem Kopfbereich sind und behandelt den Patienten erfolgreich und nachhaltig mit sanften Drainagegriffen in der Halsregion. Die Manuelle Lymphdrainage nach Vodder ist geboren und schafft es im Laufe der kommenden Jahrzehnte ganz allmählich als Behandlungsoption – zumindest für Lymphödeme - anerkannt zu werden. Sowohl Lymphdrainagetherapeuten als auch Kosmetikerinnen lernen die speziellen Behandlungstechniken.

Kosmetische und Brasilianische Lymphdrainage

Während noch vor ein paar Jahrzehnten die Lymphdrainage im Kopfbereich ein fester Bestandteil von kosmetischen Behandlungen in Deutschland war, wurde es seit etwa der Jahrtausendwende ruhiger um diese zeitaufwändige Behandlungsform.
Nun ist es eine Brasilianerin, die Hollywood-Größen medienwirksam mit einer abgewandelten Form der Manuellen Lymphdrainage gesünder, jünger, straffer und schöner macht. Unter dem Schlagwort „Brasilianische Lymphdrainage“ verbindet sie Elemente der Manuellen Lymphdrainage nach Vodder mit Fascientherapie und anderen manuellen und topischen Ansätzen zu einem sehr erfolgreichen Konzept, welches über die sozialen Medien seit ein paar Jahren auch Europa erreicht hat. Viele Kosmetik-Institute und Physiotherapien nutzen den neuen Schwung, der dadurch entstanden ist. Und das ist auch gut so: Schließlich hat die Lymphe ungeahnte Heilkräfte, wie schon Emil Vodder schrieb, und viele Menschen sollen von dieser natürlichen Therapie profitieren. Dabei sollte aber keinesfalls vergessen werden, dass das Thema Lymphe nicht nur aus ästhetischer und kosmetischer Sicht ein sehr wertvolles ist, sondern auch aus präventiver und kurativer. 

Lymphatiker und Lymphmittel

In der Erfahrungsheilkunde waren Lymphatiker schon vor Vodder bekannt: Lymphmittel als Konstitutionsmittel gehören zu den ältesten homöopathischen Komplexmitteln und sind bewährte Klassiker im Produktportfolio vieler naturheilkundlicher Firmen. Erfahrungsheilkundlich gilt Lymphstau als wesentlicher Faktor für die Entstehung chronischer Erkrankungen. Lymphabflussfördernde Methoden – ob manueller oder medikamentöser Art - gehören zu den Basistherapien in der Naturheilkunde und Ganzheitsmedizin.

Lymphdrainage in der Schulmedizin

In den letzten Jahrzehnten wurde die Manuelle Lymphdrainage endlich im Rahmen der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie als effektive Methode der Lymphödem-Behandlung anerkannt und wird hier auch von den Krankenkassen gezahlt. Ein großer Erfolg, für den viele wissenschaftlich hochwertige Studien notwendig waren. 
Ob es eine direkte Folge dieser Entwicklung oder eher Zufall war, lässt sich schwer beurteilen. Auffällig ist jedenfalls, dass im Zuge dieser überfälligen Wertschätzung für die Manuelle Lymphtherapie Lymphabflussstörungen in der Schulmedizin zunehmend ausschließlich als mechanisches Problem angesehen werden: Unsere etablierte Medizin erkennt nur noch mechanische Therapien bei Lymphabflussstörungen an. Das mussten die Herstellerfirmen von homöopathischen Lymphmitteln erkennen, denn im gleichen Zeitraum, in dem die Manuelle Lymphdrainage langsam anerkannt wurde, verloren viele der etablierten Lymphmittel ihre Zulassungen oder die Anwendungsgebiete wurden eingeschränkt. 

Bedeutung von Lymphtherapien 

Man gewinnt den Eindruck, dass mit der zunehmenden Wissenschaftlichkeit der Therapiemethode Manuelle Lymphdrainage deren Breite an Behandlungsmöglichkeiten in Vergessenheit geraten ist. Diese reicht von chronischen Sinusitiden über Infektanfälligkeit, Hautproblemen, Kopfschmerzen bis hin zu Wundheilungsstörungen, Schwellungen und Schmerzen - auch postoperativen und posttraumatischen.
Heute wird die Lymphdrainage – abgesehen von der Lymphödem-Behandlung - in der ästhetischen Medizin geschätzt: Kein Wunder, denn hier geht es am ehesten um schnell sichtbare Erfolge, weil die Kosten meist privat getragen werden müssen. So raten beispielsweise Plastische Chirurgen oft zur Lymphdrainage in Zusammenhang mit Fettabsaugung oder plastischen Operationen. 

Lymphe im Fokus der Wissenschaft

Wie gut, dass die Wissenschaft endlich die Bedeutung der Lymphe erkennt und durch neue Studien in den letzten 10 Jahren einen Zusammenhang zwischen Lymphstau, Mikrozirkulationsstörungen und systemischen entzündlichen und neurodegenerativen Erkrankungen wie MS, Demenz und Psoriasis herstellt.
Sind Sie an Neuigkeiten aus der Forschung zum Thema Lymphe interessiert? Wir senden Ihnen gerne einen aktuellen-Fach-Artikel zu, wenn Sie uns schreiben an: medinfo(at)pascoe.de
Allen, die um das Potential der Lymphdrainage wissen, tut es wohl ein bisschen weh, dass erst Hollywood ihren Wert für die Schönheit entdecken muss, damit sie die Aufmerksamkeit bekommt, die sie schon so lange verdient. 

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