Orthorexie: Wenn gesunde Ernährung zwanghaft wird

Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer Welt, in der alles um das Essen kreist – und zwar nicht einfach um das Essen selbst, sondern um die „perfekte“ Ernährung. So erging es Steven Bratman, der den Begriff „Orthorexie“ geprägt hat. In einer Phase seines Lebens Ende der 1970er Jahre aß er nur noch ungekochtes Obst und Gemüse, das direkt hinter seinem Haus wuchs. Die Regeln dazu waren für ihn klar definiert: Zwischen Ernte und Verzehr durften nicht mehr als 15 Minuten vergehen. Jeder Bissen seiner Mahlzeiten wurde 50-mal gekaut, während er mit einem missionarischen Eifer seine Freunde und Familie von seiner strengen Ernährungsphilosophie überzeugen wollte. Doch diese Besessenheit führte nicht zu Gemeinschaft, sondern in die Isolation. Bratman endete allein, gefangen in seiner eigenen Welt der Lebensmittelregeln.
Wo liegt die Verbindung zwischen dieser Selbsterfahrung von Bratman und der heutigen Lebenswelt? Heutzutage legen immer mehr Menschen großen Wert auf eine gesunde Ernährung. Das ist eine grundsätzlich positive Entwicklung – schließlich ist eine ausgewogene Ernährung ein Basispfeiler von Gesundheit und Lebensqualität. Doch was passiert, wenn der Wunsch, sich gesund zu ernähren, wie bei Bratman ins Extreme – also in die Orthorexie – kippt? Aber was genau steckt hinter diesem Begriff, und wie unterscheidet sich dieses Phänomen von einer „normalen“ gesunden Lebensweise?
Was ist Orthorexie?
Orthorexie, auch bekannt als Orthorexia nervosa, beschreibt eine zwanghafte Fixierung auf gesundes Essen. Der Begriff wurde 1997 von dem US-amerikanischen Arzt Steven Bratman geprägt – durch die eingangs erwähnten eigenen Erfahrungen. Orthorexie ist allerdings kein offiziell anerkannter Diagnosebegriff wie Anorexie oder Bulimie. Die Orthorexie unterscheidet sich von diesen Essstörungen, weil hier nicht die Quantität des Essens im Vordergrund steht, sondern die Qualität. Betroffene entwickeln strenge, oft selbst auferlegte Regeln, was sie essen dürfen und was nicht – und dabei werden die Grenzen immer enger, woraus sich eine Art Zwangsstörung entwickelt.
Orthorexie vs. gesunde Ernährung: Wo liegt der Unterschied?
Man kann es mit allem übertreiben - auch mit guter Ernährung.
Prof. Dr. med. Martina de Zwaan, Med. Hochschule Hannover
Während eine gesunde Ernährung auf Ausgewogenheit setzt und auch gelegentlich Raum für Genuss lässt, geht es bei Orthorexie um eine extreme Kontrolle und Perfektionismus. Hier einige Unterschiede:
- Gesunde Esser achten auf Nährstoffe, genießen aber auch mal eine Ausnahme, wie ein Stück Kuchen oder ein Glas Wein. Orthorektiker hingegen fühlen sich schuldig oder sogar ängstlich, wenn sie von ihren strengen Ernährungsregeln abweichen.
- Bei einer gesunden Ernährung spielt Genuss eine Rolle. Orthorexie hingegen ist von einem ständigen Drang nach Kontrolle geprägt.
- Eine gesunde, vielfältige Ernährung enthält alle wichtigen Nährstoffe. Orthorektiker schränken oft immer mehr Lebensmittelgruppen ein, weil sie diese als „ungesund“ oder gar „schädlich“ ansehen.
Wie zeigt sich Orthorexie?
Jemand, der den ganzen Tag damit verbringt, nur Tofu und Quinoa-Kekse zu essen, kann sich so heilig fühlen wie jemand, der sein ganzes Leben der Unterstützung der Obdachlosen gewidmet hat. Steven Bratman
Menschen mit Orthorexie konzentrieren sich nicht mehr nur darauf, was gut für ihren Körper und ihre Seele ist, sondern entwickeln eine obsessive Beziehung zum Essen. Sie fühlen sich häufig auch anderen gegenüber überlegen, weil sie glauben, dass ihre Ernährungsweise als moralisch besser zu bewerten ist.
Weitere typische Anzeichen sind:
- Ständige Beschäftigung mit Essen: Betroffene denken oft stundenlang über ihre Mahlzeiten nach oder planen diese bereits Tage im Voraus.
- Dabei verbannen sie vermeintlich „ungesunde“ Lebensmittel wie Zucker, Fette oder verarbeitete Produkte vollständig von ihrem Speiseplan.
- Gewichtskontrolle steht nicht im Vordergrund, Gewichtsabnahme ist allenfalls Nebenprodukt.
- Weil Orthorektiker nur nach ihren strengen Regeln essen wollen, vermeiden sie oft gemeinsame Mahlzeiten oder z.B. auch Restaurantbesuche – eine zunehmende soziale Isolation kann die Folge sein.
Orthorexie-Test: Bin ich betroffen?
Der Selbsttest von Steven Bratman ist ein einfacher Fragebogen, der darauf abzielt, ungesunde Fixierungen auf gesunde Ernährung zu identifizieren. Der Test besteht aus einer Reihe von Fragen, die das Verhalten und die gedanklichen Muster in Bezug auf das Essverhalten untersuchen. Der Fokus liegt darauf, ob eine Person durch den Versuch, sich gesund zu ernähren, negative Auswirkungen auf ihr Leben erfährt.
Der Test bietet somit eine wertvolle Orientierungshilfe, um zu erkennen, ob das Streben nach einer gesunden Ernährung über ein gesundes Maß hinausgeht und zu einer zwanghaften Störung wird.
Zu den Ja-/Nein-Fragen:
- Denken Sie mehr als drei Stunden pro Tag über Ihre Ernährung nach? (außer, Sie sind beruflich mit Ernährung beschäftigt)
- Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehr als einen Tag im Voraus?
- Ist der Nährwert von Lebensmitteln wichtiger für Sie als der Genuss des Essens?
- Hat sich Ihre Lebensqualität verschlechtert, seit Sie versuchen, gesünder zu essen?
- Sind Sie strenger mit sich selbst geworden in Bezug auf die eigenen Ernährungsgewohnheiten?
- Essen Sie weniger Nahrungsmittel, die Sie früher als ungesund angesehen haben, und meiden Sie diese zunehmend?
- Gibt Ihnen Ihr Ernährungsplan ein Gefühl von Kontrolle oder Sicherheit?
- Fühlen Sie sich schuldig oder ängstlich, wenn Sie von Ihrem selbst aufgestellten Ernährungsplan abweichen?
- Haben Sie durch Ihre Essgewohnheiten Probleme auszugehen und distanzieren Sie sich dadurch von Freunden und Familie?
- Spüren Sie ein befriedigendes Gefühl von totaler Kontrolle, wenn Sie beim Essen alles richtig machen?
Die Auswertung des Tests gibt anhand der Anzahl der bejahten Fragen und der Intensität der Antworten Aufschluss darüber, ob Sie möglicherweise Anzeichen einer Orthorexia nervosa zeigen:
Anzahl der bejahten Fragen
0-2-mal „Ja“: Dies deutet darauf hin, dass du vermutlich ein gesundes Verhältnis zu Essen hast. Du bist achtsam, was du isst, aber deine Ernährung kontrolliert nicht dein Leben.
3-4-mal „Ja“: Es besteht ein gewisses Risiko, dass du deine Ernährungsgewohnheiten zu stark kontrollierst. Deine Fixierung auf gesunde Ernährung könnte bereits einen Einfluss auf deinen Alltag oder dein Wohlbefinden haben.
5 oder mehr bejahte Antworten: Eine hohe Anzahl an „Ja“ deutet darauf hin, dass Sie möglicherweise in eine ungesunde, zwanghafte Beziehung zu Ihrer Ernährung geraten sind. Dies kann darauf hinweisen, dass Sie sich auf einem Weg zur Orthorexie befinden, besonders, wenn Sie soziale, emotionale oder körperliche Folgen spüren.
Wenn viele Fragen bejaht werden und Sie sich in einer negativen Beziehung zu Ihrer Ernährung wiedererkennen, ist es ratsam, sich professionelle Hilfe z.B. in einer Praxis oder bei einem Psychotherapeuten zu holen – denn unbehandelte Orthorexie kann ernsthafte physische und psychische Folgen haben.
(un-)gesundes Fett
Gesunde Ernährung
Welche Folgen kann Orthorexie haben?
- Wenn essenzielle Nährstoffe wie Eisen, Calcium oder Vitamine fehlen, kann das zu ernsthaften Mangelerscheinungen wie Vitamin-Mangel führen.
- Durch die einseitige Ernährung kann das Immunsystem geschwächt werden, was das Risiko für Infektionen erhöht.
- Die ständige Befürchtung, nicht „richtig“ zu essen, kann dazu führen, dass Betroffene soziale Kontakte meiden oder sich ausgegrenzt fühlen.
Psychisch leiden Menschen mit Orthorexie oft unter Stress, Schuldgefühlen und einem gestörten Selbstbild. Die ständige Kontrolle des Essens kann zu erhöhter innerer Anspannung führen und die Lebensqualität deutlich beeinträchtigen.
Wenn Sie bereits merken, dass Sie in ein ungesundes Essverhalten abgleiten, ist es wichtig, frühzeitig Unterstützung zu suchen. Eine kognitive Verhaltenstherapie beispielsweise kann dabei helfen, den Zwang zur Kontrolle zu durchbrechen und wieder ein gesünderes Verhältnis zum Essen zu entwickeln. Zudem kann eine Beratung durch Ernährungsexperten helfen, wieder eine ausgewogene und nährstoffreiche Ernährung zu erlangen.
Wie sollte man mit dem Thema Essen umgehen?
Die beste Wahl ist, grundsätzlich entspannt damit umzugehen:
- Achten Sie darauf, verschiedene Lebensmittel in Ihre Ernährung einzubauen und keine Gruppen pauschal auszuschließen („bunt essen“).
- Erlauben Sie sich zum Genuss hin und wieder „ungesunde Lebensmittel“ wie ein Stück Schokolade, ohne sich schuldig zu fühlen.
- Hören Sie auf Ihren Körper und essen Sie, was Ihnen guttut. Setzen Sie auf Achtsamkeit statt auf starre Regeln und ständige Kontrolle.
- Gemeinsames Essen mit Freunden oder Familie ist wichtig. Versuchen Sie, die Zeit mit anderen zu genießen, statt sich auf die Nährwerte Ihres Essens zu fixieren.
Quellenangaben & weiterführende Literatur
Bücher
- Barthels, F., Pietrowsky, R.: Orthorektisches Ernährungsverhalten – Nosologie und Prävalenz, Psychother Psychosom Med Psychol 2012, 62(12): 445-449. Auflage 1970*
- Bratman, S.: Orthorexia vs. theories of healthy eating, Eat Weight Disord 22, 381–385 (2017). Auflage 1970*
- Chenkov Y, Hristova DN.: A brief literature overview on orthorexia nervosa – one new representative in cluster of eating disorders., J of IMAB. 2021 Jan-Mar;27(1):3568-3571. 1970*
Weblinks
- Steven Bratman, M.D., beyondveg, "Health Food Junkie", 15.10.2024*
- healthline, "Orthorexia Nervosa: Signs, Symptoms, and Treatment of a Misunderstood Eating Disorder", 15.10.2024*
- Jana Hauschild, Spiegel Psychologie, "Gefährlich gesund", 16.10.2024*
- ohann F. Kinzl, Katharina Hauer, Christian Traweger und Ingrid Kiefer, ernaehrungs-umschau, "Orthorexia nervosa: Eine häufige Essstörung bei Diätassistentinnen?", 16.10.2024*
- Stella Glogowski, ernaehrungs-umschau, "Essstörungen: Orthorexie in der Beratungspraxis", 16.10.2024*
- Ulrike Weber-Fina, PTAheute, "Was ist eigentlich Orthorexie?", 16.10.2024*
*: Bei Literatur: Erscheinungsjahr; bei Webseiten: Datum des letzten Abrufs